Predigtreihe 2020 - "300 Jahre Lügenbaron Münchhausen - Schwierigkeiten mit der Wahrheit"

Münchhausen
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Wegen der aktuellen Corona-Krise und den damit entfallenen Gottesdiensten finden Sie hier das Manuskript von Pfarrer Thomas Schäfer und Vikar Tobias Mangold zum nachlesen.

Manuskript von Pfarrer Thomas Schäfer:

Psalm 25
Nach dir Herr, verlanget mich.
Mein Gott, ich hoffe auf dich.
Lass mich nicht zuschanden werden,
dass meine Feinde nicht frohlocken über mich.
Herr, zeige mir deine Wege
und lehre mich deine Steige.
Leite mich in deiner Wahrheit
und lehre mich.
Denn du bist der Gott, der mir hilft;
täglich harre ich auf dich.
Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit
und an deine Güte,
die von Ewigkeit her gewesen sind.
Die Wege des Herrn sind lauter Güte
und Treue für alle,
die seinen Bund und seine Zeugnisse halten.
Meine Augen sehen stets auf den Herren,
denn er wird meinen Fuß aus dem Netz ziehen.
Wende dich zu mir und sei mir gnädig, denn ich bin einsam und elend.
Die Angst meines Herzens ist groß,
führe mich aus meinen Nöten.

Liebe Gemeinde in Alzenau / Kahl / Schöllkrippen und jetzt lieber Leser, liebe Leserin!
300 Jahre Lügenbaron Münchhausen - unser Leitthema der Predigtreihe in diesem Jahr.
Mein Thema lautet „Vom Versuch, wahrhaftig zu leben: Leite mich in deiner Wahrheit (Psalm 25). Von Fake News und Notlügen – wer hat Anspruch auf die Wahrheit?“
Berühmt sind die Geschichten vom Baron Münchhausen – auch wenn es eben Lügengeschichten sind. Berühmt sind– so traurig es ist – mittlerweile auch Fake News. Neu ist dabei die Haltung, die hinter diesen Fake News steht: „Gefühle sind wichtiger als Fakten“. Aber: Ist das etwas Neues?
„Die Menschen lügen. Alle“ so ein betender Mensch im Psalm 116.
Mal ehrlich: Wer von uns hat noch nie gelogen? Bisher habe ich da immer in betroffene Gesichter geblickt und bin selbst nachdenklich geworden. Und nachdenklich wurden wir im Kollegenkreis beim Austausch über unser Thema: Lügen bzw. Menschen, die nicht die Wahrheit sprechen können oder wollen – die Bibel ist voll von diesen Geschichten. Offenbar tun wir uns manchmal schwer mit der Wahrheit – und die Wahrheit mit uns! Offenbar trifft das einen Nerv des Menschseins! Und offenbar differenzieren wir deswegen beim Lügen:

1) Da ist die Notlüge
Eine biblische Geschichte erzählt von einer Notlüge. Kennen Sie Schiffra und Pua? Sie versuchen es mit einer Notlüge (2. Mose,1,15ff). Der König von Ägypten sprach zu den hebräischen Hebammen von denen die eine Schiffra hieß und die andere Pua: „Wenn ihr den hebräischen Frauen bei der Geburt helft, dann seht auf das Geschlecht, wenn es ein Sohn ist, dann tötet ihn; ist´s aber eine Tochter, so lasst sie leben.“ Aber die Hebammen fürchteten Gott und taten nicht, wie der König von Ägypten ihnen gesagt hatte, sondern ließen die Kinder leben. Da rief der König von Ägypten die Hebammen und sprach zu ihnen: „Warum tut ihr das, dass ihr die Kinder leben lasst?“ Die Hebammen antworteten dem Pharao: „Die hebräischen Frauen sind nicht wie die ägyptischen, denn sie sind kräftige Frauen – ehe die Hebamme zu ihnen kommt, haben sie geboren.“ Und darum tat Gott den Hebammen Gutes. Und das Volk mehrte sich und wurde sehr stark. Und weil die Hebammen Gott fürchteten, gab Gott ihnen auch Nachkommenschaft.
Gegen den Tötungsbefehl setzen die Hebammen ihre Achtung vor Gott und ihre Achtung vor dem Leben und verweigern sich. Eine Notlüge hilft ihnen, Rede und Antwort zu stehen gegenüber dem mächtigen Pharao. Aber wie das immer so ist: eine Notlüge wendet nie das Blatt vollkommen. Sie gewährt maximal etwas Aufschub. So auch in unserer Geschichte.
Da gebot der König dann nämlich: "Alle Söhne, die geboren werden, werft in den Nil, alle Töchter lasst leben.“ Die Notlüge half nur bedingt weiter. Sie ist keine Lösung auf Dauer. Aber in der biblischen Tradition um die Befreiung Israels bereitet sie den Boden für die Mose-Erzählung „Der aus dem Wasser gezogen wurde“ – eben dieser Mose wurde zur Leitgestalt eines Menschen, der sich von Gott in die Freiheit führen lässt, trotz allem Widerstand menschlicher Macht. Eine Lügengeschichte also nicht nur bei Münchhausen, sondern auch in der Bibel. Erstaunlich. Wo es doch heißt: „Du sollst nicht lügen: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ (2. Mose 20,16)

2) Der Versuch der Wahrhaftigkeit
Ja, wir brauchen Wahrhaftigkeit und Wahrheit – sonst könnten wir nicht zusammenleben. Das alte Gebot sprach von der Notwendigkeit der Wahrhaftigkeit vor Gericht. Hier sollst du nicht lügen, damit eine Lüge kein Leid anrichten kann!
Wir brauchen die Wahrheit auch im Alltag. Wir könnten uns sonst nicht aufeinander verlassen. Aber, auf der anderen Seite: Müssen wir alles voneinander wissen? Müssen und können wir die Wahrheit über alles stellen? Wahrheit kann einen Menschen auch bloßstellen. Die Seiten sichtbar machen, die lieber nicht gesehen werden wollen. In der Vergangenheit gab es genügend Beispiele, wo ein Coming-Out nicht gut aufgenommen wurde. Wenn die Medienaufmerksamkeit weiterwandert, bleiben Menschen dann bloßgestellt und verletzt zurück.
Vielleicht brauchen wir auch das: Jeder Mensch muss ein Recht auf seine Geheimnisse haben. Sonst wären wir „gläserne“ Menschen, für jeden durchschaubar. Aber genauso sind wir nicht und können es nicht sein. Das ist die Kehrseite, dass wir einander nicht hinter die Stirn und nicht ins Herz schauen können, denn „nur Gott sieht ins Herz“.

3) Kann eine Lüge dennoch wahr sein?
Dass eine Lüge in diesem Sinn wahrhaftig ist und einem Menschen eher gerecht wird, darüber hat Dietrich Bonhoeffer in seiner „Ethik“, verfilmt in „Die letzte Stufe“, Deutschland 1999, nachgedacht. Wenn ein Lehrer einen Jungen vor versammelter Klasse fragt, ob sein Vater wieder einmal betrunken nach Hause gekommen ist, ist der Junge dann verpflichtet, ja zu sagen? Der Lehrer missbraucht seine Macht, indem er eine solche Frage stellt. Der Junge antwortet also aufrichtig, wenn er lügt und seinen Vater verteidigt und so viel lügt, wie er nur kann.
Im Gefängnis wurde Bonhoeffer verhört, man wollte Informationen über den Widerstand. Einem Wärter gegenüber sagte Bonhoeffer: „Wir müssen nicht jedem, der uns fragt, die Wahrheit sagen. Nur Gott!“
Die Frage der Wahrheit ist also komplexer, als uns lieb ist. Nur mit einfacher Moral, so nach dem Motto „sag immer schön die Wahrheit“ kommen wir nicht weiter. Wir müssen im Leben wohl immer den größeren Rahmen, den jeweiligen Kontext mitdenken, um der Wahrheit annähernd gerecht zu werden. Manchmal brauchen Menschen auch Schutz vor der Wahrheit. Und manchmal haben Menschen eben, wie Dietrich Bonhoeffer sagt, keinen Anspruch auf die Wahrheit, weil die Mächtigen damit ehrliche Menschen zu Opfern der Macht machen können.

4) Was ist Wahrheit in Zeiten von Fake News?
Besonders schwierig wird die Frage nach der Wahrheit in Zeiten von Fake News. Was sind Fake-News eigentlich? Warum ist der Umgang mit ihnen so schwer? Sie müssen nicht immer unwahr sein, aber das ist an Fake News wesentlich: sie kommunizieren etwas Falsches mit. Es wird dadurch ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit kommuniziert, ohne tatsächlich eine falsche Behauptung aufzustellen. Fake News wollen ihr Publikum täuschen. Sie sind bewusst irreführend. Etwas wird so ausgedrückt, dass über die „reine“, oft im wörtlichen Sinn wahre Information hinaus auch falsche Informationen kommuniziert werden. Wer nicht über den weiten Horizont vieler Informationen verfügt, kann die Fake News schwer entlarven. Aber es ist deutlich: Fake News vergiften die Frage nach der Wahrheit und damit die Verlässlichkeit unseres Zusammenlebens.

5) Die Wahrheit Gottes ist immer größer
„Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich.“ Diese Worte des 25. Psalms haben wir gemeinsam gebetet. Die Wahrheit, die für mich heute in diesem alten Psalm steckt, lautet: Gottes Wahrheit ist immer größer, wir erkennen nur immer ein Stückwerk! Aber wir können im Gebet bitten und uns von Gott den Blick leiten und vor allem weiten lassen. Und auch das Stück Wahrheit lernen. Wir haben immer nur einen kleinen Teil der Wahrheit in Händen, immer den Teilaspekt, nie das Ganze.
Der Psalm 25 verbindet in Gottes Handeln das Wort Wahrheit mit Worten wie Gottes Gnade, Gottes Barmherzigkeit und Gottes Güte. Gottes Wahrheit kommt mir nicht wie eine dogmatische Weisheit entgegen, sondern wie eine liebevolle Wegweisung in schwieriger Zeit. Dadurch können wir die Wahrheit, die wir sind oder die wir erleben oder erleiden vielleicht ertragen. Gottes barmherziger Umgang mit uns macht uns achtsamer mit allem, was wir für „wahr“ halten.
Eine alte Weisheit aus der Antike, die Geschichte der „Drei Siebe des Sokrates“, erzählt das so: Zum weisen Sokrates kam einer gelaufen und sagte: "Höre Sokrates, das muss ich dir erzählen!" "Halte ein!" - unterbrach ihn der Weise. "Hast du das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe gesiebt?"
"Drei Siebe?", fragte der andere voller Verwunderung.
"Ja, guter Freund! Lass sehen, ob das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe hindurchgeht. Das erste ist die Wahrheit. Hast du alles, was du mir erzählen willst, geprüft, ob es wahr ist?" "Nein, ich hörte es erzählen und..."
"So, so! Aber sicher hast du es im zweiten Sieb geprüft. Es ist das Sieb der Güte. Ist das, was du mir erzählen willst gut?"
Zögernd sagte der andere: "Nein, im Gegenteil..."
"Hm...", unterbracht ihn der Weise, "so lass uns auch das dritte Sieb noch anwenden. Ist es notwendig, dass du mir das erzählst?" "Notwendig nun gerade nicht..."
"Also," sagte lächelnd der Weise, "wenn es weder wahr noch gut noch notwendig ist, so lass es begraben sein und belaste dich und mich nicht damit."
Vielleicht ist von uns also nicht gefordert, immer und überall gnadenlos wahrhaftig zu leben und ohne Rücksicht die eigene Wahrheit über alles zu stellen, wie ein Stein in der Brandung. Aber was sicher gerade in Zeiten von Fake News gut ist: eher sein wie ein Strand, an dem die Welle ausläuft: Den unwürdigen Witz nicht weitererzählen, den verunglimpfenden Kettenbrief nicht weitersenden, die unseriöse Nachricht nicht weiterverbreiten, dem veröffentlichten Gerücht keinen Glauben schenken.
Amen!

Fürbitten-Gebet:
Heiliger Gott, wir machen uns Gedanken über die Wahrheit und die Wahrhaftigkeit.
Öffne uns die Augen, um Unwahrhaftiges zu erkennen.
Hilf uns, die Wahrheit zu leben, wo anderen dadurch geholfen wird.
Hilf uns, ein Geheimnis zu bewahren, bevor andere zu Schaden kommen.
Hilf uns, wahrhaftig auf dich zu vertrauen.
Aus der glaubenden Ahnung, dass Deine Wahrheit größer ist als alles Wissen und all unsere Vermutungen lass uns an einem gnädigeren Umgang mit uns selbst und mit unseren Mitmenschen arbeiten.


Vater unser….

 

Manuskript von Vikar Tobias Mangold

Liebe Gemeinde,
„Als Münchhausen bei Pilatus frühstückte“  - Einige von Ihnen werden diesen Titel schon zur Kenntnis genommen haben. Vielleicht haben Sie ihn auf der Homepage der Kirchengemeinde gelesen, vielleicht haben Sie es aus dem Kirchenboten, oder Sie haben das Plakat für die Predigtreihe gelesen. Auch letzten Sonntag wurde diese Predigt heute mit diesem Titel angekündigt: „Als Münchhausen bei Pilatus frühstückte“
Was für ein einzigartiges Erlebnis das für beide gewesen sein muss. Vielleicht haben Sie sich ja auch schon Gedanken darüber gemacht, wie das gewesen sein könnte, als Münchhausen bei Pilatus frühstückte. Was die wohl gegessen haben? Irgendeine Art Brot oder Brötchen, ganz sicher, vielleicht Obst, oder ein Ei. Ich frage mich, wie Pilatus wohl seinen Kaffee trinkt. Mit Milch und Zucker? Oder eher schwarz und bitter. Pilatus ist ja ein Mann der Fastenzeit. Schwarz passt da doch besser.
Und worüber Sie sich wohl unterhalten haben, die beiden. Der Freiherr von Münchhausen, der Lügenbaron, wie er genannt wird. Und Pontius Pilatus, Statthalter der Provinz Judäa und oberster Richter des Landes. Leider ist kein Protokoll des Gespräches überliefert. Wir können nur mutmaßen. Ob Münchhausen eine seiner Geschichten erzählt hat? Ob Pontius Pilatus ihm in seine Amtsgeschäfte eingeweiht hat? Über die schweren Entscheidungen, die er zu treffen hat, könnte er sicher viel berichten…
Liebe Gemeinde, ich muss Ihnen etwas beichten. Ich habe Sie in die Irre geführt. Münchhausen und Pilatus haben sich nie getroffen. Dieses Frühstück hat es nie gegeben.
Nein! – Doch! – Oh!
Ja, es tut mir leid. Ich habe gelogen.
Dass sich diese beiden Herrschaften getroffen haben könnten, der Gedanke hat mir einfach zu gut gefallen. Die Predigt hätte sich quasi von selbst geschrieben, wenn ich den beiden hätte zuhören können. Aber, liebe Gemeinde, seien Sie mir nicht böse. Ich glaube sogar, Sie haben das schon geahnt. Jedenfalls hätten Sie es ahnen können.
Anlass unserer Predigtreihe ist ja der dreihundertste Geburtstag des Lügenbarons Münchhausen. Am elften Mai 1720 ist er auf die Welt gekommen.
Von Pontius Pilatus wissen wir das nicht so genau. Um das Jahr 30 herum muss er aber, um Statthalter werden zu können, mindestens volljährig, also einundzwanzig Jahre alt gewesen sein. Eine Geburt um das oder eher noch vor dem Jahr Null unserer Zeitrechnung wird üblicherweise angenommen. Das heißt, liebe Gemeinde, dass zu einer Zeit, als Münchhausen alt genug war, irgendjemanden zum Frühstück zu besuchen, also frühestens, sagen wir, 1730 (?) Pilatus mindestens eintausendsiebenhundertdreißig Jahre alt gewesen sein muss. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass er so alt geworden ist. Schade, aber Fakt.
Und auch wenn Sie, liebe Gemeinde, diese Rechnung noch nicht selbst angestellt hatten… Hand aufs Herz: Sie haben doch nicht für eine Sekunde wirklich geglaubt, da könnte etwas dran sein, oder? Münchhausen frühstückt bei Pilatus. Nein. Das ist schlicht Unfug.
Und doch: Dieser Unfug hat seinen Reiz. Genau mit solchen Geschichten verbinden wir ja den Namen Münchhausen. Mit Lügengeschichten. Mit klaren Verstößen gegen das siebte Gebot: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden, also: Du sollst nicht lügen. Münchhausen heißt „der Lügenbaron“. Und obwohl Münchhausen in unserer Wahrnehmung so eng mit der Lüge verbunden ist: Er ist nie der „Böse“. Münchhausen ist keine Schreckgestalt oder ein Scheusal, nein, er ist sogar recht beliebt. Und das war er schon zu Lebzeiten!
Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen wurde am elften Mai 1720 in Bodenwerder bei Hameln geboren. Im Alter von 17 Jahren wurde er nach Adliger Sitte Page. Er diente dem Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel. Dem folgte er gleich im ersten Jahr nach Russland in den Russisch-Österreichischen Türkenkrieg. Er machte militärische Karriere unter seinem Patron Anton Ulrich. Im Jahre 1740 wurde der Sohn von Anton Ulrich sogar zum Zaren von Russland ernannt. Kaum zu glauben: Dieser Sohn, Iwan der sechste, war da erst ein Jahr alt. Münchhausens Aussichten konnten kaum besser sein: Immerhin war sein Patron, sein Mentor, der Vormund und Vater des Zaren von Russland.
Doch das Glück währte nicht lange. Noch im selben Jahr, während Münchhausen gerade in Finnland kämpfte, wurde der kleine Iwan vom Thron gestürzt und mitsamt seinem Vater und der ganzen Familie für lange Zeit eingesperrt. Münchhausen kam mit einem blauen Auge davon. Er ließ sich zunächst in Lettland nieder, und kehrte 1750 als einfacher Landadeliger nach Deutschland zum Stammsitz seiner Familie in Bodenwerder zurück. Dort führte er ein einfaches, aber geselliges Leben. Er hatte viel zu erzählen.
Und er hatte Talent. Seine Anekdoten und Geschichten waren sehr beliebt. Noch zu seinen Lebzeiten wurden sie gesammelt und veröffentlicht. Nicht wenige Verleger verdienten ziemlich gut daran. Münchhausen selbst sah von dem Geld freilich nichts. Er litt sogar eher unter dieser Berühmtheit. Die Herausgeber seiner Geschichten, hatten sich schnell auf den werbewirksamen Namen „Der Lügenbaron“ eingeschossen. Das kränkte ihn sehr. Er hatte ja nie jemanden böswillig belogen. Seine Geschichten sollten unterhalten.
Ganz ähnlich wie die Geschichte „Als Münchhausen bei Pilatus frühstückte“ waren die Geschichten Münchhausens nämlich alle so gemacht, dass jedem Hörer klar war, dass es sich nicht um die Wahrheit handelte. Ein Beispiel: Münchhausen erzählt von seiner Heimreise von Lettland nach Deutschland mit einer Postkutsche an einem besonders kalten Wintertag.
„Bevor die Kutsche auf dem Weg in eine enge Schlucht hineinfährt, will der Kutscher ein Signal geben, damit es keine schwierige Begegnung mit Gegenverkehr in der Schlucht gibt. Er bläst also in sein Posthorn, und bläst und bläst, aber es kommt nichts heraus. Kein Ton, keine Melodie, gar nichts. Dem Kutscher ist das natürlich peinlich und er bläst und bläst. Schließlich gibt er auf und sie fahren weiter. Tatsächlich gibt es dann Gegenverkehr mitten in der Schlucht und Münchhausen muss die Situation mit seinem großartigen Geschick lösen.
Abends erreichen sie ein Gasthaus und wärmen sich auf. Der Kutscher hängt sein Horn über den Kamin. Und auf einmal fängt das Horn an, die prächtigsten und hellsten Signale zu geben, spielt sogar Melodien und schließt mit einem Abendlied. Den beiden wird klar: Die Töne waren in der kalten Luft im Horn festgefroren und tauten jetzt auf.“
Nun, liebe Gemeinde, wohin bringt uns das? Und was hat das überhaupt mit Pilatus, oder mit irgendetwas überhaupt zu tun? Im Hintergrund liegt ganz klar die Frage, das Problem, der Wahrheit. Diese Frage ist für uns eng mit den Namen Pontius Pilatus verbunden.
Pilatus ist unsicher. Er sucht nach der Wahrheit. Für ihn ist sie nicht offensichtlich. In allen Varianten der Passionsgeschichte wird das herausgestellt. Besonders deutlich bei Johannes. Hier wird Jesus zunächst dem Kaiphas und dann dem Pilatus vorgeführt. Pilatus redet mit Jesus und versucht zu verstehen, wofür Jesus angeklagt wird, warum er sterben soll. Es geht um die Frage, ob Jesus der König der Juden ist oder nicht. Ich lese:
Da sprach Pilatus zu Jesus: So bist du also ein König?
Jesus antwortete: Du sagst es. Ich bin ein König.
Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge.
Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.
Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?
Und als er das gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden und spricht zu ihnen:
Ich finde keine Schuld an ihm.
„Was ist Wahrheit“. Diese Frage hallt nach. Und sie beendet das Gespräch. Jesus antwortet nicht. Das braucht er auch nicht. Pilatus lässt ab und erklärt ihn für unschuldig. Wir wissen nicht, was in Pilatus vorgegangen sein könnte. Was denkt er sich bei der Frage? Warum braucht er keine Antwort?
Für Johannes, den Evangelisten, der uns diese Szene beschreibt, ist die Sache klar. Für mich auch: Die Frage ist absurd. Sie ist keine echte, offene Frage. Denn die Antwort steht Pilatus schon gegenüber. Und das schon lange. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ hatte Jesus vorher gesagt. Pilatus will wissen, ob Jesus in Wahrheit ein König ist. Dabei ist Jesus mehr als das. Er ist die Wahrheit. Er ist aus der Wahrheit, und Zeuge für die Wahrheit. Pilatus zeigt uns, wie es ist, die Wahrheit als Gegenüber zu haben. Er begreift sie nicht. Er hat sie nicht. Er sieht sie nur an. Und weiß Bescheid. Pilatus hat die Wahrheit vor Augen.
Pilatus hat die Wahrheit auf eine ganz besondere Weise vor Augen, als Gegenüber. Gewissermaßen ist er damit das Gegenstück zu Münchhausen. Münchhausen hat die Wahrheit nicht vor Augen. Er beschäftigt sich nicht damit, wie die Dinge in Wahrheit sind. Er sucht keinen Zeugen der Wahrheit. Münchhausen ist ein Schritt weiter: Er hat die Wahrheit im Rücken.
Münchhausen erzählt Geschichten, die lustig sind, weil sie nicht der Wahrheit entsprechen. Und weil die Wahrheit so klar im Hintergrund steht. Töne frieren nicht ein. Und gerade weil sie es eben nicht tun, ist die Geschichte gut. Wenn hier Unklarheit herrschen würde, wenn wir uns nicht sicher wären, dass Töne im Horn nicht einfrieren… Die Geschichte wäre weder witzig noch interessant. Die Reaktion wäre ein verunsichertes „Vielleicht? Weiß nicht? Und jetzt?“ Aber so ist es nicht. Die Wahrheit liegt offen da. Münchhausen verfälscht nicht die Wahrheit. Er hat sie im Rücken und entscheidet sich dazu, etwas anderes zu sagen als die Wahrheit. Wie gesagt: Seine Geschichten funktionieren nur, weil die Wahrheit klar im Hintergrund steht. Weil Münchhausen sich der Wahrheit sicher ist, kann er sich von ihr Abwenden. Und weil wir uns der Wahrheit sicher sind, können wir mitgehen.
Pilatus dagegen hat die Wahrheit vor sich. Er kämpft sich an ihr ab. Sie ist merklich zu groß für ihn. Und, liebe Gemeinde, das ist ja auch ganz richtig so. Die Wahrheit, die er vor sich hat, ist mehr, ist größer als all das, was Münchhausen behandelt. Münchhausens Wahrheiten beschränken sich auf Erfahrungen des Alltags, die jeder Mensch immer wieder machen kann. Dass Töne nicht einfrieren zum Beispiel. Pilatus hat nicht eine Wahrheit vor sich, eine Erfahrung oder ein naturwissenschaftliches Gesetz. Er hat die Wahrheit, den Zeugen der Wahrheit an sich vor Augen. Natürlich ist er überfordert.
Und wir, liebe Gemeinde? Wir sind es auch. Die Wahrheit Jesu Christi ist uns eine Nummer zu hoch. Diese göttliche Wahrheit, aus der alles ist. Die im Menschen Jesus in die Welt gekommen ist, und aus der auch wir leben. Wir könne sie nicht begreifen. Aber: Das müssen wir auch nicht. Wir dürfen wie Pilatus mit offenen Augen und offenen Mündern davor stehen bleiben – der Wahrheit gegenüber – und uns wundern, wie so etwas möglich ist. In Jesus Christus sehen wir die Wahrheit, die wir nicht begreifen. Am Kreuz sehen wir, wie wenig wir sie begreifen.
Aber es gibt auch die andere Seite. Im Glauben an Jesus Christus, den Gott uns geschenkt hat, haben wir diese Wahrheit im Rücken. So sicher, wie, dass Töne nicht einfrieren, wissen wir, dass Gott uns liebt. Dass wir an die Wahrheit glauben. Wir haben die Wahrheit im Rücken.
Münchhausen kennt seine Wahrheit, und kann so tun, als gäbe es sie nicht.
Wir kennen unsere Wahrheit und können so leben, als gäbe es sie nicht.
Und, das ist uns auch klar: Das tun wir. Jeden Tag, wenn wir Angst haben, uns alleine fühlen und schwach. Wenn wir zweifeln, an uns, an der Welt und an Gottes Plan. Dann tun wir so, als hätten wir die Wahrheit nicht. Dann lügt unser Leben. Und wir könnten uns darüber aufregen. Oder aber, liebe Gemeinde, wir nehmen uns Münchhausen zum Vorbild. Und erinnern uns daran, dass unser Leben auch nur so eine Geschichte ist. Die Wahrheit ist größer. Wir werden die Wahrheit nicht ändern, nur weil wir sie nicht leben. Wir haben Gott im Rücken. Und da wird er auch bleiben. Ob wir seine Wahrheit anschauen oder ob wir uns abwenden.
Liebe Gemeinde, eines will ich aber noch bedenken: Wenn wir die Wahrheit Gottes in unserem Rücken spüren. Wenn wir uns sicher sind, dass Christus lebt. Dann macht uns das frei. Nicht nur frei dazu, etwas anderes zu sagen. Unsere Lebensgeschichten müssen nicht immer nur Münchhausengeschichten sein. Wir können und dürfen auch selbst Zeugnis ablegen.
Für Münchhausen wäre das sicher zu banal. Weil auch seine Wahrheiten banal sind. „Leute wisst ihr eigentlich, dass Töne nicht einfrieren im Winter?“ Das braucht es nicht.
Unsere Wahrheit, die vor der Pilatus stand, ist nicht banal. Sie ist groß und gut. Und wir dürfen sie bezeugen. Wir dürfen sie uns gegenseitig sagen, beschreiben, ausmalen. Und wir dürfen sie in die Welt tragen, in unseren Taten und Worten. Wir haben die Wahrheit im Rücken. Und wir dürfen uns dazu bekennen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in der Wahrheit, die da ist Christus Jesus, unser Herr. Amen